top of page

ESRS vs. VSME: Der Mythos der Entlastung

  • Autorenbild: Alexander W. Hinz
    Alexander W. Hinz
  • 23. März
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 24. März



Alexander Hinz
Offen gesprochen: Alexander W. Hinz, Wirtschaftsprüfer & Managing Partner

Mit der Veröffentlichung des freiwilligen VSME-Standards („Voluntary Sustainability Reporting Standard for non-listed Micro, Small and Medium-sized Enterprises“) durch die EFRAG im Dezember 2024 in Verbindung mit dem Omnibus Verfahren hat sich die Debatte um eine verhältnismäßige Nachhaltigkeitsberichterstattung im Mittelstand in eine neue Richtung verschoben.


Nachdem die verpflichtenden European Sustainability Reporting Standards (ESRS) im Rahmen der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) bereits umfassende Kritik auf sich gezogen hatten – insbesondere hinsichtlich ihrer Komplexität und der vermuteten Überforderung kleinerer Unternehmen – werden die VSME vielerorts als pragmatische Alternative begrüßt.


Eine detaillierte Analyse der Standardarchitektur sowie der materiellen Offenlegungspflichten zeigt jedoch, dass der Entlastungsversuch nicht nur konzeptionell inkonsistent, sondern in Teilen sogar regressiv ist – sowohl im Hinblick auf Governance-Anforderungen als auch im Vergleich zu den ESRS selbst.

 

Während die ESRS einen Governance-orientierten Rahmen schaffen, der auf einer Doppelten Wesentlichkeitsanalyse (Double Materiality Assessment, DMA) basiert und selektiv Berichtsanforderungen entlang einer Wesentlichkeitsperspektive definiert, verzichtet der VSME-Standard in seiner aktuellen Ausprägung vollständig auf eine strukturierte Wesentlichkeitsanalyse. Zwar wird in der Präambel betont, dass Angaben nur insoweit zu tätigen seien, wie sie den spezifischen Umständen des Unternehmens entsprechen (VSME.5). Doch bleibt völlig offen, wie diese „spezifischen Umstände“ zu bestimmen sind, auf welcher methodischen Grundlage sie abgeleitet werden sollen und wie die Konsistenz mit dem übrigen Berichtswesen sichergestellt werden kann. Gerade in der Praxis führt dies zu einer paradoxerweise höheren Offenlegungslast, da der Verzicht auf eine explizite Wesentlichkeitsanalyse Unternehmen zwingt, eine Vielzahl potenziell irrelevanter Datenpunkte zu berichten, um Unsicherheiten aus der Anwendung der VSME zu vermeiden.

 

Diese Problematik wird umso gravierender, wenn man die strategischen Weichenstellungen der EU-Kommission berücksichtigt: Im Rahmen des sogenannten Omnibus-Verfahrens wird angestrebt, den VSME-Standard als faktisches Mindestmaß für die ESG-Informationsbereitstellung entlang der Wertschöpfungskette zu etablieren – auch für Unternehmen, die nicht unter die CSRD fallen. Zwar bleibt der VSME formal freiwillig, doch fungiert er in diesem Kontext als definitorische Obergrenze dessen, was größere Unternehmen von ihrer vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette an ESG-Daten abfragen dürfen. Der VSME wird damit zu einem regulatorisch kodifizierten Erwartungswert – und verliert seine unverbindliche Natur zugunsten einer indirekten, aber wirksamen Standardisierung. Für die betroffenen KMU ergibt sich daraus eine paradoxe Lage: Ohne klar definierte Wesentlichkeitslogik sind sie faktisch verpflichtet, das gesamte Indikatorenset als baseline zu implementieren – unabhängig davon, ob einzelne Themen unternehmensspezifisch relevant sind oder nicht.

 

Ein Vergleich konkreter Berichtspflichten verdeutlicht diese Problematik: Während ESRS E1 – Klimawandel – Unternehmen mit nicht wesentlichen Emissionen gegebenenfalls auch nicht zur Offenlegung von Scope 1- und 2-Emissionen sowie des Energieverbrauchs verpflichtet sind, enthält VSME B3 eine verpflichtende Angabe der Treibhausgasintensität aus Scope 1 & 2 bezogen auf die ökonomische Leistung (Treibhausgas zu Umsatz) – unabhängig von der Branche oder Relevanz des Themas. Ebenso sind in B6 Angaben zum Wasserverbrauch und in B7 zur Abfallwirtschaft zu leisten, selbst wenn die entsprechenden ESRS-Kapitel (E3, E5) unter eine Wesentlichkeitsschwelle gefallen wären. Der VSME-Standard operiert damit nicht als abgestufte Offenlegungssystematik, sondern als formal reduziertes, materiell jedoch breit angelegtes Berichtsraster.

 

Dies wird auch auf der methodischen Ebene deutlich. Die ESRS sehen im Rahmen der Scope 1- und 2-Ermittlung die Anwendung des Operational Control-Ansatzes vor (ESRS E1.50b iVm IG2.51) „Please note that a literal reading of paragraph 50(b) may make it seem as if this is only applicable to investees (associates, joint arrangements and unconsolidated subsidiaries, etc.) under operational control but this is not the intention. GHG emissions of entities, assets and sites under operational control but without financial control (or without investment relationship) will also be included in the disclosure under paragraph 50(b).“


Während die VSME explizit auf das GHG Protocol verweisen – inklusive des Konzepts der Scope 3-Emissionen und der zugehörigen Methodiken. Dies könnte grundsätzlich zur Harmonisierung der Datenqualität beitragen, hebt aber zugleich die Anforderungen für viele nicht börsennotierte KMU deutlich über das hinaus, was sie bisher zu leisten hatten.


Darüber hinaus erlaubt der VSME-Standard die freie Wahl zwischen drei unterschiedlichen Konsolidierungsansätzen für die Abgrenzung von Emissionen – dem Equity Share-, Financial Control- und Operational Control-Ansatz (vgl. VSME B3.95). Diese Wahlfreiheit ohne klare Präferenz oder methodische Hierarchie führt in der Praxis jedoch zu einem gravierenden Problem: Unternehmen innerhalb derselben Wertschöpfungskette können unterschiedliche Systemgrenzen wählen – etwa vorgelagerte Lieferanten nach Operational Control, das berichtende Unternehmen nach Equity Share und nachgelagerte Partner wiederum nach Financial Control. Die Folge sind doppelte oder fehlende Erfassungen und eine verzerrte THG-Bilanz auf aggregierter Ebene. Was im Einzelfall wie eine flexible Lösung erscheint, entwickelt sich systemisch zu einem Risiko für Datenkonsistenz und Transparenz – und konterkariert die Intention einer harmonisierten ESG-Berichterstattung entlang der Lieferkette.


Hinzu kommt: Der Verzicht auf die DMA unterminiert nicht nur das Governance-Verständnis des ESG-Rahmens, sondern steht auch im Widerspruch zu allgemeinen Anforderungen an ein funktionierendes internes Kontroll- und Risikomanagementsystem. Denn eine zentrale Erkenntnis der ESRS-Implementierung war, dass die DMA nicht nur Berichtsvoraussetzung, sondern zugleich strukturierende Komponente eines übergreifenden Nachhaltigkeits-Risikomanagements ist – mit klarer Anschlussfähigkeit an bestehende Governance- und Compliance-Systeme. Dass der VSME-Standard diese methodische Fundierung ausspart, stellt seine Einbindung in bestehende Corporate-Governance-Strukturen fundamental in Frage.

 

Erschwerend wirkt sich darüber hinaus aus, dass der VSME keine prüferische Durchdringung vorsieht. Während Nachhaltigkeitsinformationen unter ESRS prüfungspflichtig sind und damit ein Mindestmaß an Validität und Nachvollziehbarkeit sichern, verbleibt die Anwendung des VSME-Standards im Bereich nicht verifizierter Selbstauskünfte – mit erheblichen Implikationen für Datenqualität und Vertrauen. Gerade in komplexeren Wertschöpfungsketten, in denen ESG-Informationen von Zulieferern und Subunternehmen abgefragt werden, stellt sich die Frage nach der Relevanz und Verlässlichkeit von VSME-basierten Angaben. In der Praxis dürfte dies zu Fragmentierung und qualitativer Inhomogenität führen – mit entsprechenden Auswirkungen auf Due-Diligence-Prozesse, Supply Chain Audits und Stakeholderkommunikation.

 

Fazit

Der Wechsel von ESRS auf VSME-Standards ist weniger als Fortschritt, sondern vielmehr als symptomatische Reaktion auf eine überhitzte ESG-Debatte zu verstehen, die vielfach auf kommunikative Narrative statt auf regulatorisch und technisch fundierte Umsetzung fokussiert. Die Illusion, der Mittelstand könne durch eine Parallelstruktur zum ESRS signifikant entlastet werden, ist empirisch wie konzeptionell nicht tragfähig. Statt einer substanzlosen Proliferation freiwilliger Berichtsinstrumente bedarf es einer fundierten Auseinandersetzung mit der Frage, wie Governance, Wesentlichkeit und Relevanz sowie Datenqualität auch im nicht regulierten Segment langfristig gesichert werden können – und wie ESG-Berichterstattung tatsächlich zu einer Operationalisierung nachhaltiger Unternehmensführung beitragen kann.


Alexander Hinz

Wirtschaftsprüfer

Managing Partner

März 2025

bottom of page